Daniel Born MdL – Vizepräsident des Landtags von Baden-Württemberg

Vizepräsident des Landtags von Baden-Württemberg

„Das Vergangene und die Erinnerung daran formen, was und wer wir heute sind. Es ist Teil unserer Identität.“

Veröffentlicht am 20.06.2024 in Reden/Artikel

Festrede anlässlich der Verleihung des Rahel-Straus-Preises und Rahel-Straus-Jugendpreises 2024 auf dem Synagogenplatz in Ludwigsburg

Liebe Birgit Kipfer,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Knecht,
lieber Alfred Geisel,
liebe Frau Schwab,
liebe Mitglieder des Arbeitskreises und Fördervereins Synagogenplatz, lieber Jochen Faber,
liebe Schüler*innen, Lehrer*innen und Freund*innen der Jerg-Ratgeb-Realschule, lieber Herr Schulleiter Riegler
liebe Mitglieder und Freund*innen von Gegen Vergessen Für Demokratie,
liebe Engagierte für unsere Demokratie,
verehrte Gäste,

die Zukunft gestalten. Für das Morgen Sorgen. Ein gutes Leben ermöglichen für uns und unsere Nachkommen. Hoffnung geben. Den Blick nach vorne richten. Diese und ähnliche Formulierungen begegnen einem oft in Politik und Gesellschaft. Und ich verwende sie wahrscheinlich auch selbst oft. Als Politiker*innen schreiben wir sie auf Plakate und in unsere Wahlprogramme. Als Bürgerinnen und Bürger erwarten wir, dass Politik, Wirtschaft, Gesellschaft an Morgen denken und uns Ideen und Lösungen aufzeigen, wie wir heutige und künftige Herausforderungen lösen und eine gute Zukunft gestalten können.

All das ist zweifellos wichtig. Und man könnte fragen: Ist es nicht sogar das Wichtigste, nach vorn zu schauen? Weil man das Vergangene ja ohnehin nicht mehr ändern kann. Jetzt stehen wir hier heute gemeinsam auf dem Synagogenplatz in Ludwigsburg, um einen Preis für Erinnerungskultur zu vergeben und 2 großartige Preisträger für ihr Engagement zu ehren. Und es wird Sie nicht überraschen, dass ich überzeugt bin: Der Blick zurück, die Erinnerung ist mindestens genauso wichtig, wie der Blick nach vorn und die Vision für die Zukunft. Beides hängt eng miteinander zusammen. Die Kernfrage – und so lautet deshalb auch der Titel meiner heutigen Rede – ist also: „Warum erinnern?“

Die Antwort darauf beginne ich mit einem Geständnis: Ganz im Sinne der Zukunftsorientierung habe ich die Künstliche Intelligenz befragt. Ich habe ChatGPT gebeten, mir eine Rede unter dem Titel „Warum erinnern?“ zu schreiben. Und das Programm hat in einem Bruchteil von Sekunden eine Rede produziert, die ich durchaus hier vortragen könnte. Tatsächlich stimme ich jedem Satz darin zu. Da heißt es zum Beispiel: „Erinnern bedeutet, die Geschichten der Opfer zu bewahren, die Leiden der Vergangenheit nicht zu vergessen und aus Fehlern zu lernen.“ Völlig richtig. Weiter heißt es in der KI-Rede: „Erinnern bedeutet, Opfern eine Stimme zu geben. Und dass wir nur durch das Erinnern verhindern können, dass sich Fehler der Vergangenheit wiederholen. Auch das ist richtig.

Trotzdem halte ich hier nicht die KI-generierte Rede. Warum nicht? Weil es nicht reicht. Den Blick auf vergangenes Leid zu richten – auch als Mahnung – ist wichtig. Aber es gibt noch viel mehr Gründe fürs Erinnern.

Erinnern hat viele Facetten. Sich vergangenes Leid zu vergegenwärtigen gehört dazu. Gräueltaten und ihre Verantwortlichen nicht zu verschweigen, gehört dazu. Auch deshalb bin ich Birgit Kipfer und Alfred Geisel sehr dankbar. Sie haben sich lange dafür eingesetzt, dass wir auch in der Landespolitik aufarbeiten, wie spätere Abgeordnete in die Gräuel der NS-Zeit vertstrickt waren oder sie mitgetragen haben. Das tun wir jetzt in einer Studie, für die der Landtag die Mittel freigegeben hat.

Das Vergangene und die Erinnerung daran formen, was und wer wir heute sind. Es ist Teil unserer Identität. Aber zu dieser Identität gehört eben noch viel mehr als nur die Geschichten von Leid und Ausgrenzung. Der Synagogenplatz, auf dem wir stehen, erinnert eben nicht nur an den Holocaust und an die auch aus Ludwigsburg vertriebenen Jüdinnen und Juden. Der Platz erzählt so viel mehr als eine Geschichte von Opfern. Er erzählt auch von vielfältigem jüdischem Leben, von Kultur, von Menschen, die lebten, liebten, glaubten, arbeiteten, sich engagierten, hofften. Die Teil dieser Stadt waren. Deshalb ist es so wichtig, dass mit dem wunderbar gestalteten Synagogenplatz ein Ort mitten in der Stadt entstanden ist, der diese vielfältige Erinnerung möglich macht. Auf der dazugehörigen Website kann man hören, wie Jüdinnen und Juden einst gemeinsam mit Christinnen und Christen in Ludwigsburg lebten und sich mit ihnen gemeinsam einbrachten, in der Feuerwehr, als Unternehmer, in der Gesellschaft.

Und auch die Fotoausstellung „Gegen das Vergessen“, für deren Durchführung wir heute die Herrenberger Jerg-Ratgeb-Realschule auszeichnen, erzählt die Leben von Menschen, die so viel mehr waren als Opfer einer absolut menschenverachtenden Ideologie. Teil der Ausstellung ist die Beschäftigung mit Überlebenden des Holocaust – mit ihrer gesamten Biographie. Das ist für mich zentral: Wir müssen an vergangenes Leid erinnern. Und auch an diejenigen, die daran zugrundegegangen sind. Aber wir müssen auch daran erinnern, dass diese Menschen viel mehr sind als die Opfer, zu denen andere sie gemacht haben. Wir erinnern uns auch an die Menschen, die durch ihre Stärke, ihr Überleben dem Leid, der Unterdrückung, der Menschenverachtung ein Trotzdem! entgegensetzten. Es ist dieses Trotzdem, das die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft verbindet.

Es hat mich zutiefst beeindruckt zu hören, wie Schülerinnen und Schüler der Jerg-Ratgeb-Realschule auch ein ganz starkes Trotzdem! formuliert und gezeigt haben. Dass ihr weitergemacht habt, nachdem Bilder der Ausstellung nach nur 1 Tag mit Nazi-Parolen beschmiert wurden… Dass ihr gesagt habt, und jetzt erst recht! stehen wir gegen Antisemitismus auf. Und jetzt erst recht! zeigen wir, dass wir uns erinnern müssen an die Menschen und ihre Geschichten. Weil das mit uns heute zu tun hat. Das war ganz stark von euch und für diese Zivilcourage bin ich euch sehr dankbar!

Der Preis, mit dem wir das Ausstellungsprojekt der Jerg-Ratgeb-Realschule und den AK Synagogenplatz heute auszeichnen ist ja nach Rahel Straus benannt. Auch diese Namenswahl verdeutlicht übrigens, worum es mir geht: Rahel Straus ist 1933 emigriert. Insofern ist auch sie Leidtragende des Antisemitismus. Wir erinnern aber an sie nicht in erster Linie als ein NS-Opfer, sondern als eine starke, sehr fortschrittliche Frau. Als jemand, die ganz entgegen den Gepflogenheiten als erste Frau in Heidelberg Medizin studierte. Die Ärztin wurde und die sich für Bildungschancen und Gleichberechtigung von Frauen einsetzte. Was für eine starke Frau, welch ein Vorbild, an das es sich zu erinnern absolut lohnt.

Warum erinnern? - Darauf gibt es also unterschiedliche Antworten. Weil es viele verschiedene Gründe gibt, sich zu erinnern. Wir müssen uns an Leid und Unrecht erinnern, damit es uns eine Mahnung ist, auf unsere Demokratie, unsere Grundrechte, unser Zusammenleben gut aufzupassen. Und wir müssen uns genauso auch an die positiven Vorbilder, an gelungene Geschichten des Widerstands, des Überlebens, des Miteinanders erinnern, damit wir auch heute aus diesen Erinnerungen Inspiration schöpfen können.

Der Lyriker Ernst Hauschka hat einmal gesagt: „Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt“. Gemeinsames Erleben und geteilte Erinnerungen sind aber das, was Beziehungen und Gemeinschaft ganz wesentlich ausmachen. In guten Beziehungen, bei Paaren oder unter Freunden, beginnen Gespräche oft mit „Weißt du noch, als wir…“ Und dann teilt man miteinander, was man erlebt hat. Momente der Freude oder auch Schweres, durch das man gemeinsam gegangen ist. Durch das Erzählen der Erinnerung versichert man sich der Gemeinsamkeit, vermittelt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Auch in unserer Gesellschaft brauchen wir diese gemeinsamen Erinnerungen, damit daraus Gemeinsamkeit entsteht. Wir brauchen die Erinnerung an Leid und Unrecht, aber auch an erfolgreichen Widerstand, an Orte und Zeiten, in denen die Menschlichkeit und die Demokratie gesiegt haben. Der Verein, der den Rahel-Straus-Preis ausgelobt hat, vereint genau diesen Gedanken in seinem Titel: Gegen Vergessen – Für Demokratie.

Warum erinnern? Weil wir es unserer Demokratie schuldig sind! Und weil wir nur mit einer starken Demokratie in eine gute Zukunft gehen können.

Ich danke allen, die sich in diesem Sinne für unsere Demokratie stark machen. Ich danke Birgit Kipfer und GVFD, ich danke dem AK und Förderverein Synagogenplatz, ich danke der Jerg-Ratgeb-Realschule und der Berthold-Leibinger-Stiftung als Stifterin des Rahel-Straus-Preises. Und ich danke allen Initiativen und Vereinen, die sich so vielfältig engagieren. Lassen Sie nicht nach!

Lassen Sie uns auch in Zukunft gemeinsam dafür einstehen, dass wir uns erinnern müssen und setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass wir in der Zukunft noch viel mehr positive Vorbilder und Geschichten über unsere Demokratie erinnern können.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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